Es geht immer um Transformation

Ein Interview mit Colin Self von Beate Scheder

Colin Self oder seine Kunst in einer gängigen Kategorie zu erfassen ist kaum möglich. Das Vice Magazine nannte ihn 2014 die ‚Verkörperung der Queer Theory.’ Colin Self – geboren 1987 – ist Komponist und Performer, Tänzer, Sänger, Videokünstler, Partyveranstalter, Aktivist, grandioser Twitterer, Popvisionär, und Netzwerker. Ganz nebenbei studiert er noch Sound am Bard College. Durch seine Projekte, in denen er die Grenzen zwischen Popmusik und Performancekunst regelmäßig radikal aushebelt, erfindet Self auch sich selbst immer wieder neu. In seiner Kunst archiviere er Visionen seiner selbst, sagt er. Aber nicht nur das: Seine „Elation Series“ ist eine sechsteilige transfeministische Oper über Verklärung und globale Unsicherheiten, die die Idee der musikalischen Hochkulturgattung auf den Kopf stellt.

Self ist Teil der Drag-Supergroup „Chez Deep“ und hat außerdem den „Radical Diva Grant,“ ein Stipendium für queer-aktivistische Künstler, ins Leben gerufen, den er momentan zu einem globalen Community-Organizing-Projekt ausbaut. Er gründete die queere Partyserie „Clump“, die bis zum vergangenen Jahr monatlich in Brooklyn stattfand, sowie die darauf aufbauende Web-TV-Serie „ClumpTV.“ Aktuell tourt Colin Self mit Holly Herndon und Mat Dryhurst. Auch für seine Performance bei 3hd am 4. Dezember im HAU Hebbel am Ufer hat er für die Aufnahmen mit Künstlern aus Weißrussland und der Türkei zusammengearbeitet. Gemeinsam haben sie zwei Konzepte kombiniert, die üblicherweise wenig oder gar nichts miteinander zu tun haben: Sie haben eine neue Art von Protestmusik komponiert, die politische Botschaften mit eingängiger Post-Popmusik verknüpft.

BS: Auf deinem Twitter-Account nennst du dich Research Sister / Sacred Clown / Energy Composer. Auf Rhizome stehen noch ein paar Bezeichnungen mehr. Du komponierst, choreographierst, machst Performances und Videokunst. Warum so viel auf einmal?

CS: Ich denke, diese Vielseitigkeit entspringt der Idee, nicht nur einer sondern viele zu sein. Zu meiner künstlerischen Praxis gehört es, zwischen verschiedenen Medien und verschiedenen Methoden hin und her zu wechseln, während ich mich einer Idee nähere. Viele zu sein scheint für mich etwas zu sein, mit dem ich mich am Besten identifizieren kann.

BS: Als Künstler stehst du in der Tradition queerer Performancekunst. Inwiefern spielt das für deine Arbeit eine Rolle?

CS: Natürlich ist diese Tradition in gewisser Weise wichtig. Solche Bezüge neigen aber auch dazu, nostalgisch zu sein. Und Nostalgie hilft wenig dabei, diese Ideen weiterzuentwickeln. Klaus Nomi oder Nina Hagen zum Beispiel waren zu ihrer Zeit sehr radikal. Heute gibt es viele Nina Hagens. Sie hat ein Fundament gelegt. Die Herausforderung besteht nun darin, die queere Geschichte anzuerkennen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, aber vor allem auch herauszufinden, wie wir über sie hinauswachsen können.

BS: Mittlerweile hat es Queerness zum Teil in die Mainstreamkultur geschafft. Was bedeutet es heute überhaupt, queer zu sein?

CS: Lange ging es bei Queerness nur um Sexualität und um Gender. Nun sind wir dabei zu überlegen, wie es weitergeht. Queer hat sich zu einem akademischen Begriff für Kunst entwickelt, mit dem sich viele Menschen, die gar nicht queer sind, identifizieren können, ob politisch oder in der Art und Weise, wie sie Sex haben. Das muss allerdings nicht unbedingt mit dem Gender ihres Partner oder ihrer Partnerin zu tun haben. Sendungen wie „RuPaul’s Drag Race“ sind einerseits fantastisch, weil sie Drag in den Mainstream holen. Wenn man im Mittleren Westen wohnt, wo man so etwas nicht gewohnt ist, dann ist das eine unglaubliche Errungenschaft. Wenn man aber in New York wohnt, bringt einen das nicht weiter. Das Internet leistet indes gute Arbeit darin, neu auszuloten, was Queerness sein kann. Dass Menschen die Möglichkeit bekommen, ihren eigenen Youtube-Kanal zu gründen und sich und ihren Lifestyle dort zu präsentieren, finde ich viel aufregender als das, was uns von den Massenmedien verkauft wird.

BS: Dennoch ist an den meisten Orten der Welt die Situation für queere Personen nach wie vor prekär.

CS: Das ist der Punkt. Es geht darum, wie wir vermeiden, in ewigen Zyklen das zu wiederholen, was seit den 1970ern und 1980ern passiert.

BS: Du bist Teil des queeren Perfomance-Kollektivs „Chez Deep.“ Woran arbeitet ihr momentan?

CS: Unsere Arbeit hat sich über die Jahre stark verändert. Anfangs basierte alles auf Drag-Performances. Das hat uns irgendwann nicht mehr ausgereicht, also sind wir zu Schreibprojekten übergegangen und momentan arbeiten wir an etwas sehr Konkretem: Bailey (Stiles) ist gerade nach Missouri zurückgezogen, wo sie sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht. Die Situation für transgender Personen ist dort sehr schwierig. So kann man zum Beispiel nur einen Personalausweis erhalten, in dem man als weiblich deklariert ist, wenn man sich vorher einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat. Wir versuchen daran etwas zu verändern, recherchieren, sprechen mit Anwälten und schreiben an einem Gesetzesentwurf. Das ist nicht mehr nur Performance, sondern ein sehr reales Projekt.

BS: Worin liegt für dich der Unterschied zwischen deiner Arbeit als Solokünstler und der im Kollektiv?

CS: In meinen Soloprojekten geht es immer um Transformation und darum, das zu werden, womit ich in einem bestimmten Moment eine Idee vermitteln kann. Das hängt auch wieder mit der Idee zusammen, viele zu sein. Anfangs war es sehr schwierig für mich, als Solokünstler zu arbeiten, weil meine Projekte irgendwie immer kollaborativ waren und auch meine Soloprojekte mit anderen Menschen verknüpft sind. Wenn ich eine Idee habe, ist es genau so sehr meine eigene wie die meiner Freunde, weil sie mich beeinflussen.

BS: Tatsächlich arbeitest du sehr oft mit anderen Künstlern zusammen. Momentan bist du zum Beispiel mit Holly Herndon und Mat Dryhurst auf Tour. Wieso ist dir Kollaboration so wichtig?

CS: Immer wenn ich mit einem anderen Künstler zusammenarbeite, entsteht eine bestimmte Dynamik, gerade dann, wenn man sich über eine Sache uneinig ist und diskutiert. Die Energie, die entsteht, wenn man Zeit mit jemandem verbringt und eine Beziehung aufbaut, ist mir sehr wichtig. Ich hatte immer das Gefühl, dass meine Arbeit im Medium der Beziehung angesiedelt ist, auch wenn das kein gängiger Begriff in der Kunstwelt ist.

BS: Wie wählst du die Künstler aus, mit denen du zusammenarbeitest?

CS: Oft geschieht das einfach so. Als soziales Individuum treffe ich automatisch auf Menschen, die mit mir arbeiten wollen. Ich glaube, es gibt viele Leute, die dieses Interesse an Kollektivität teilen. Überhaupt sind wir mittlerweile so eng mit unseren Netzwerken verknüpft, dass das Konzept des Solokünstlers zu einem seltsamen Mythos geworden ist. Ich bin mit dem Leben meiner Freunde eng verbunden, sie sind ein Teil von mir.

BS: Im vergangenen Jahr hast du unter anderem mit Raúl De Nieves kollaboriert. Gemeinsam habt ihr ein Opernprojekt präsentiert. Das war jedoch nicht dein Erstes. Was interessiert dich an der Oper, and klassischer Musik und Hochkultur?

CS: Die Oper hat mich in den vergangenen Jahren stark beschäftigt. Was mir daran so gefällt sind die vielen Elemente, die dort ineinander greifen: Das Stück, die Kostüme, die Bühne, die Musik, der Dirigent, die Musiker, die Sänger. Oper ist eine soziale Idee. Mir ist jedoch bewusst geworden, dass die Oper in ihren Texten zwar oft mit großen Ideen zu tun hat, jedoch gleichzeitig eine sehr problematische Geschichte hat. Sie war immer von den Reichen und für die Reichen. Mit meiner „Elations Series“ – so heißt mein Opernprojekt – wollte ich dem Begriff seine Überhöhung nehmen. Ich wollte die Politik der Oper verändern und etwas schaffen, das sozial ist und bei dem es um Menschen geht.

BS: Du bist sehr präsent im Netz. Wie wichtig sind das Internet und soziale Medien für deine Arbeit?

CS: Sehr wichtig. Es ist so seltsam, Teil einer Generation zu sein, die sich von der älteren und der jüngeren stark darin unterscheidet, inwiefern das Internet ihr Leben geformt hat. Ich bin sehr froh darüber, während der ersten Phase des Internets auf diesem Planeten zu sein und zu sehen, wie schnell es sich verändert.

BS: Das Internet hat auch das Musikbusiness stark verändert. So scheint es immer wichtiger zu werden als Musiker eine Marke zu sein. Branding wird wichtiger als die Musik selbst. Wie nimmst du das wahr?

CS: Branding ist definitiv sehr wichtig geworden. Ich habe früher immer gesagt: Ich bin keine Marke, Branding ist schrecklich, steckt mich in keine Schublade. Aber es ist seltsam in der Musik:

Wir entwickeln uns immer stärker hin zu einer visuellen Kultur und weg von Wörtern. Es ist erschreckend, wie viele Bilder wir heute tagtäglich sehen, vor allem wenn man es mit der Zeit vergleicht, in der es Instagram noch nicht gab. Es gibt Leute, die prophezeien, dass wir in der näheren Zukunft nur noch mit Bildern kommunizieren werden. Emojis sind ein gutes Beispiel: Alles, was wir nicht wirklich aussprechen können, können wir mit einem Emoji sagen. Wer weiß, wie es in fünf Jahren sein wird. Ich glaube, das ist es, was einen Großteil des Brandings ausmacht: Zu versuchen, in all das hineinzupassen.

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